08. Mai 2020

Wenn Deutschland den 2. Weltkrieg gewonnen hätte

Alternativweltgeschichten als Horrorszenario

 

Am 8. Mai 1945 kapitulierte das Deutsche Reich vor seinen alliierten Kriegsgegnern, womit nach fast sechs Jahren der 2. Weltkrieg - zumindest in Europa - endete. Heute, also auf den Tag genau 75 Jahre nach dieser Befreiung von der faschistischen Schreckensherrschaft, können wir nur erahnen, was der Welt dadurch erspart geblieben ist. Ein Blick in die Archive, die die Pläne der Naziführung für die Zeit nach dem Krieg dokumentieren, lässt Schlimmes erahnen.

 

Die Frage "Was wäre, wenn ...?" ist eines der wichtigsten Elemente der Science-Fiction-Literatur, und das gilt natürlich ganz besonders für das Subgenre der Alternate History, jener Romane also, die einen alternativen Geschichtsverlauf zur Prämisse haben.

Ein beliebtes und auf morbide Weise faszinierendes Thema ist dabei: "Was wäre, wenn Deutschland den 2. Weltkrieg gewonnen hätte?"

 

Aus Anlass des heutigen Datums soll hier eine kleine Auswahl an Büchern vorgestellt werden, in denen ein solches Horrorszenario weitergedacht wird.

 


 

Philip K. Dick

"Das Orakel vom Berge"

(OT: "The Man in the High Castle")

1962


Dieser Klassiker, durch die Serienadaption zu neuem Ruhm gelangt, erzählt aus amerikanischer Sicht, wie die USA unter den Siegermächten Deutschland und Japan aufgeteilt wurden. Dick-typisch geht es hier gleich um mehrere Parallelwelten, bis irgendwann nicht mehr ganz klar ist, welche denn nun real ist und welche nicht.

Eine ebenso verzwickte wie komplexe Geschichte und Pflichtlektüre für PKD-Fans - wer mit dessen Stil bisher nichts anfangen konnte, dürfte sich allerdings auch hiermit schwer tun.

 


 

Otto Basil

"Wenn das der Führer wüsste"

1966

 


Der Roman des Österreichers Otto Basil, selbst während der Nazizeit mit einem Schreibverbot belegt, zeigt eine Welt, in der das Deutsche Reich den USA mit der Entwicklung der Atombombe zuvor kam und so den Krieg für sich entscheiden konnte. Rund zwanzig Jahre später erstreckt sich der deutsche Machtbereich auf fast die gesamte Welt und die übelsten Unterdrückungs- und Vernichtungsfantasien wurden weitgehend in die Tat umgesetzt. In dieser trotz der fürchterlichen Prämisse eher satirischen Aufarbeitung des Themas kommt auch der mythologisch-esoterische Ansatz nicht zu kurz - ein Aspekt, der bei vielen wahnwitzigen Ideen der Nazis auch in der Realität eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat.

Ein ungewöhnliches, nicht mit den Maßstäben heutiger Lesegewohnheiten zu messendes Werk, das gerade deshalb hervorsticht.

 


 

Len Deighton

"GB-SS"

(OT: "GB-SS")

1978

 


Deightons Roman spielt im Jahr 1941 in England, kurz nach einer deutschen Invasion und anschließender Kapitulation des Königreichs. Auslöser der Handlung ist ein mysteriöser Mordfall, der in der Folge zahlreiche Verwicklungen auslöst, die sowohl die deutschen Besatzer als auch den britischen Widerstand betreffen - zumal auf beiden Seiten erbitterte interne Machtkämpfe ausgefochten werden.

Auch die sonstige weltpolitische Lage hat sich verändert, am gravierendsten dabei ist die Tatsache, dass Deutschland in dieser alternativen Welt nicht gegen die Sowjetunion Krieg führt. Zudem fällt auch hier dem Wettlauf um die Entwicklung der Atombombe eine Schlüsselrolle zu.

Ein Roman mit einer sehr britische Sichtweise, der übrigens ebenfalls - wie "The Man in the High Castle" - eine Serienadaption erfahren hat.

 


 

Robert Harris

"Vaterland"

(OT: "Fatherland")

1992

 


Auch "Vaterland" beginnt mit einem Mordfall, der Ort des Geschehens ist diesmal allerdings das Deutsche Reich im Jahr 1964. Nach dem Sieg über Großbritannien und die Sowjetunion sowie der territorialen Ausdehnung gen Osten (wo weiterhin ein endloser Partisanenkrieg geführt wird) ist Deutschland zur beherrschenden Macht Europas geworden und befindet sich nun im "Kalten Krieg" mit den USA.

Unter Präsident Joseph (!) Kennedy bahnt sich eine vorsichtige Entspannung an, doch noch hat die Welt keine genaue Vorstellung davon, welche Gräuel sich in Deutschland abgespielt haben.

Von den hier vorgestellten Alternativwelt-Szenarien bietet "Vaterland" wohl die realistischste, atmosphärischste und detailreichste Darstellung. So ähnlich hätte die Welt der 60er Jahre tatsächlich aussehen können.

 


 

 Jo Walton

 "Die Stunde der Rotkehlchen"

(OT: "Farthing")

2006


In diesem Auftakt zur dreiteiligen "Inspector Carmichael" - Reihe hat England im Jahr 1941 einen Separatfrieden mit dem Deutschen Reich geschlossen. Nachdem ein Zweifrontenkrieg so verhindert wurde, konnte Nazi-Deutschland dadurch die Herrschaft über weite Teile Europas erlangen.

Die Handlung setzt nun acht Jahre später ein, als ausgerechnet der damalige "Vater" jenes Friedensvertrags ermordet aufgefunden wird.

Von dieser Mischung aus klassischem Kriminalroman und Politthriller sind noch zwei weitere Bände erschienen, die vor demselben politisch-historischen Hintergrund spielen:

 

"Der Tag der Lerche"

(OT: "Ha´penny", 2007)

 

"Das Jahr des Falken"

(OT: "Half a Crown", 2008)


Mordfälle bzw. Krimihandlung scheinen also beliebte Mittel zu sein, um auf der Bühne von alternativen Welten spannende Geschichten zu erzählen. Doch in Jo Waltons Büchern geht es um mehr, denn auch soziologisch-politische Fragen werden aufgeworfen. Wie würde sich beispielsweise in einer solchen Situation, in der der Nationalsozialismus europaweiter "Alltag" geworden ist, die britische Gesellschaft entwickeln?

Eine außergewöhnliche Krimireihe einer großen Erzählerin.


 

Nach all diesen unappetitlichen Szenarien und so viel geballtem NS-Irrsinn können wir nur froh und dankbar sein, dass es anders gekommen ist. Ein Blick in die genannten Romane allerdings lohnt sich trotzdem. Oder gerade deswegen.