Ursula K. LeGuin

Verlorene Paradiese

"Lost Paradises"

Novelle

 

2002

 

 

 

 

  

 

 

 

Übersetzung: Horst Illmer

Atlantis

140 Seiten

1. Ausgabe 2014



 

Der Hintergrund

Mehr als ein Jahrzehnt hat es gedauert, bis diese Novelle der amerikanischen SF - Altmeisterin endlich in der deutschen Übersetzung erschien. Und prompt gewann sie den Kurd-Laßwitz-Preis für das "Beste Ausländische Werk".

 

 

Das Thema

Eine isolierte Gesellschaft

 

 

Der Einstieg

"Die blauen Flächen zeigten jede Menge Wasser, wie die Hydrotanks, nur tiefer, und die andersfarbigen Teile waren Erde, wie die Gärten, nur größer. Was sie nicht begreifen konnte, war der Himmel."

Eine Welt, in der das Selbstverständliche fremd geworden ist.

 

 

Der Inhalt

Ein riesiges, zu einer autarken Welt mit einigen Tausend Bewohnern ausgebautes Raumschiff ist zu einem fernen Planeten unterwegs, der - so wird vermutet - Bedingungen bietet, die ein menschliches Überleben ermöglichen. Er ist jedoch so weit entfernt, dass sich die Reise dorthin über mehrere Generationen erstrecken wird. Erzählt wird hier die Geschichte der "vorletzten" Generation; von Menschen also, die auf dem Schiff geboren wurden und - von einigen dann bereits hoch betagten Ausnahmen abgesehen - auch dort sterben werden. Die somit weder Ausgangs- noch Endpunkt ihrer Expedition jemals kennen lernen.

Doch was geschieht mit Menschen, die ihr gesamtes Leben in solch einem geschlossenen System verbringen und deren Dasein einzig und allein der Erfüllung einer Mission dient? Wie weit haben sie sich schon von den Ideen, Zielen und Denkweisen ihrer Vorfahren entfernt?

 

 

Form, Stil und Sprache

Im ersten Teil dieser Novelle widmet sich die Autorin überwiegend der Schilderung des Universums, in dem sich ihre Geschichte abspielt. Wie funktioniert diese Gesellschaft, wie sichert sie ihr Überleben, wie haben die Menschen ihren Alltag organisiert?

Im weiteren Verlauf konzentriert sie sich dann mehr und mehr darauf, die eigentliche Handlung voranzutreiben. Es kommt zu unerwarteten Entwicklungen, spannende Fragen werden aufgeworfen, Entscheidungen müssen getroffen werden.

Beides gelingt ihr auf hohem Niveau.

 


Lob und Kritik

+++++ Schlüssige Beschreibung der Umgebung +++++

Die Idee eines "Generationenraumschiffes" wurde im Laufe der SF-Historie ja bereits in diversen Romanen und Kurzgeschichten aufgegriffen. Die meisten davon gingen jedoch nur ansatzweise (oder überhaupt nicht) darauf ein, wie ein solches denn wohl aussehen bzw. funktionieren könnte. Vieles blieb unglaubwürdig oder sogar gänzlich unerklärt.

Hier wird hingegen in knappen Erläuterungen ein nachvollziehbares und glaubhaftes Modell entwickelt, wie die Durchführung dieses Mammutprojekts und die Organisation des Lebens an Bord vorstellbar wären. Das wirkt durchdacht und bildet damit einen soliden Hintergrund für die eigentliche Geschichte.

 

+++++ Kluge Sozialstudie +++++

Dies ist ein Abenteuerroman. Denn könnte es ein größeres Wagnis geben, als in völlig fremde und unbekannte Welten vorzustoßen? Um so ein Abenteuer geht es in diesem Buch. Auch. Aber das ist nicht das eigentliche Thema. 

Denn in erster Linie geht es um die Menschen, die sich auf dieser Expedition befinden. Um ihr Zusammenleben, ihre Befindlichkeiten und ihre allmähliche Entfremdung von allem, was früheren Generationen noch vertraut und selbstverständlich war. Darum, wie sich unter solch speziellen Bedingungen Denk- und Verhaltensweisen ändern können. Kurz und gut: Ursula K. LeGuin beschreibt in ihrer Novelle die Entwicklung einer menschlichen Gesellschaft und liefert damit eine hochspannende soziologische Studie.

 

+++++ Entwicklung einer neuen Religion +++++

Auch das ist eine Kunst: Auf wenigen Seiten wird "mal eben" eine neue Religion erfunden. Und diese ist so plausibel dargestellt, dass man zwar nicht gerade zu ihrem fanatischen Anhänger wird, sich aber durchaus vorstellen kann, wie sie funktioniert. Oder zumindest eine Ahnung davon bekommt, wie Religionen überhaupt funktionieren (können).

 

- - - - - Gemächliches Erzähltempo +++++

Dass bei "Verlorene Paradiese" nicht spektakuläre Raumschiffaction oder blutige Auseinandersetzungen mit feindlichen Aliens im Mittelpunkt stehen, dürfte bereits klar geworden sein. Wir verfolgen zwar ein gigantisches Abenteuer anhand der Lebens-geschichten mehrerer Protagonisten, aber dennoch passiert nicht ständig etwas Aufregendes.

Genau das ist aber durchaus der Sinn der Sache, denn hier geht es eben nicht um ein möglichst lautes und schnelles Weltraumspektakel, sondern um die detailreiche Darstellung einer Gesellschaftsform. Das mag hartgesottenen "Warhammer 40.000"-Fans auf den ersten Blick mühsam erscheinen, aber es sei ihnen versichert: Langeweile kommt trotzdem nicht auf! Denn bevor das Ganze dann doch irgendwann zu theoretisch zu werden droht, sorgt ein erzählerisch-inhaltlicher Kniff dafür, dass die Handlung schließlich nochmal Fahrt aufnimmt und so manches des zuvor erlebten eine neue Bedeutung, ein anderes Gewicht bekommt.

 

 

Das Fazit

Eine intelligente Erzählung voller interessanter Fragestellungen und kluger Gedanken, in einem glaubwürdig dargestellten Umfeld. Unbedingt lesen!


Ursula K. LeGuin

Verlorene Paradiese

Eine sf-Lit Rezension von 2015