Ryū Murakami

In Liebe, Dein Vaterland

"Hanto o deyo"

 

2005

   

  

 

Übersetzung: Ursula Gräfe

Septime

451 / 496 Seiten



Die Handlung: Eine nordkoreanische Eliteeinheit besetzt ein japanisches Baseballstadion und später die ganze Stadt, um so - nach dem Eintreffen weiterer 120.000 Soldaten - einen südlichen Zipfel Japans in eine nordkoreanische Provinz umzuwandeln. Das in der hier beschriebenen (Parallel-)Welt politisch und wirtschaftlich extrem geschwächte Japan reagiert völlig hilflos, auch die Verbündeten sehen nur tatenlos zu, und somit droht der Plan zu gelingen.

Die Invasion, ihre Planung und skrupellose Durchführung durch nordkoreanische Militärs, sowie die Hilflosigkeit vom geschwächten, unentschlossenen oder auch gleichgültigen Rest der Welt wird minutiös und detailliert beschrieben.

 

Das klingt alles allzu unrealistisch und übertrieben? Ja, zunächst schon. Bei genauerer Betrachtung allerdings muss man feststellen, dass viele Aspekte vielleicht doch gar nicht mal so abwegig sind. So drohen die Besatzer beispielsweise damit, im Falle eines militärischen Gegenschlags Zehntausende von Geiseln zu töten - eine nur zu gut vorstellbare Terror-Taktik. Zudem präsentieren sie sich gar nicht als von ihrer Regierung geschickte Invasoren, sondern als abtrünnige Revolutionäre, die nicht für, sondern sogar gegen das nordkoreanische Regime handeln. Und schon stecken Politik und Diplomatie in einer Zwickmühle.

Außerdem stellen einige Nationen schnell fest, dass bei langwierigen Verhandlungen und Blockaden schwere wirtschaftliche Einbußen drohen. Wenn man sich hingegen mit den "neuen Machthabern" arrangiert, ließe sich möglicherweise sogar Kapital aus der Situation schlagen. Da stellt sich der eine oder andere Bündnispartner plötzlich als gar nicht mehr so zuverlässig dar ...

Und schon liest sich das Ganze nicht mehr als bloße Absurdität, sondern als eine bitterböse Satire. Zweifellos satirisch-zynisch übertrieben, aber eben auch mit erschreckend glaubwürdigen Details.

 

Auch die allgegenwärtige Datensammelwut wird kritisch beleuchtet, denn die Aggressoren machen sie sich gnadenlos zunutze und führen uns dabei vor Augen, wie "gläsern" wir modernen Menschen mittlerweile sind und was mit unseren lückenlos erfassten Daten so alles angestellt werden kann, sobald sie in die falschen Hände geraten.

Und ganz nebenbei bekommen wir außerdem hier und da kleine Einblicke in koreanische und japanische Geschichte, Gebräuche und Eigenarten. Das gesamte Setting ist einfach überaus interessant.

 

Alles in allem ist das also eine ziemlich abgefahrene, in zwei knapp 500-seitigen Bänden erzählte Parallelwelt-Geschichte in ungewohnter Umgebung. Es geht um Politik, Militär, Mitläufer, Außenseiter, Psychopathen, Medien, Gewalt(!), Melancholie und giftige Gliederfüßer.

 

Negativ: Es treten irre viele Personen auf. Zwar gibt es zum Glück hinten in beiden Büchern jeweils ein Personenregister, aber dennoch sind es einfach zu viele, um zu einzelnen von ihnen eine echte Bindung oder Empathie zu entwickeln.

Zudem führen manche Abschweifungen zu weit: von beinahe jeder Figur, egal ob wichtig oder Nebenrolle, wird erst einmal die Lebensgeschichte erzählt. Das ist manchmal gut und notwendig, um ihre Handlungen zu verstehen, häufig aber einfach überflüssig und ohne Bezug zur Geschichte. Auf Dauer ist das eindeutig zu viel des Guten und führt zu etlichen Längen. Rückblickend stellt sich die Frage, ob es wirklich nötig war, die Geschichte auf zwei Bände zu strecken. Streng genommen wohl eher nicht.

 

Trotzdem bietet "In Liebe, Dein Vaterland" eine interessante Leseerfahrung. Für die schwachen Abschnitte mit teils seitenlanger Langeweile können die guten Momente mit tarantinoartig-absurden Szenen sowie die bissigen Seitenhiebe auf unsere wirkliche Welt oftmals entschädigen.

Eine bedingungslose Empfehlung kann an dieser Stelle allerdings nicht guten Gewissens ausgesprochen werden, dazu ist die Geschichte in vielen Passagen leider allzu zäh. Einen Versuch ist es aber allemal wert.


Ryu Murakami

In Liebe, Dein Vaterland

Eine sf-Lit - Kurzkritik von 2020