John Lanchester

Die Mauer

"The Wall" 

 

2019

   

  

 

 

Übersetzung: Dorothee Merkel

Klett-Cotta

348 Seiten



Ein irgendwie merkwürdiges Buch, dessen Beurteilung - soviel vorweg - nicht ganz und gar spoilerfrei möglich ist.

Es spielt in Großbritannien, das sich nach dem sogenannten "Wandel" komplett abgeschottet und mit einer Mauer umgeben hat, an der jeder mögliche Eindringling gnadenlos getötet wird. Eine Art umgekehrte DDR-Grenze sozusagen. Oder weitergedachte EU-Grenze.

Jener Wandel wird gar nicht näher erläutert, aber man darf wohl davon ausgehen, dass der Klimawandel gemeint ist, der weite Teile der Welt unbewohnbar gemacht und dafür gesorgt hat, dass Flüchtlinge aus aller Welt - propagandistisch entmenschlichend "Die Anderen" genannt - versuchen, nach GB hineinzugelangen. Ähnlich dem Wehrdienst (die Älteren werden sich erinnern) muss auf dieser Mauer jeder Bürger zwei Jahre Dienst tun und, falls es wirklich zum Äußersten kommen sollte, notfalls auch töten.

Die Geschichte wird über weite Strecken sehr langsam und repetitiv erzählt, was die Monotonie und den Stumpfsinn der endlosen Wachdienst-Schichten eindringlich verdeutlicht. Doch über allem schwebt zugleich immer auch die latente Gefahr, von einem Moment auf den anderen um Leben und Tod kämpfen zu müssen.
Erst nach und nach entfalten sich so zwischen den Zeilen die Hintergründe, die man zu Beginn nur ansatzweise erahnen kann. Die Welt, die dahinter steckt - und damit jene für die Protagonisten zur Selbstverständlichkeit gewordene Ungeheuerlichkeit.
Diese Erzählweise ist bestimmt nicht jedermanns Sache, aber zum Inhalt passt der Stil wirklich perfekt und er unterstreicht das Geschehen (oder das Nicht-Geschehen) ganz hervorragend.

Ungefähr im letzten Drittel ändert sich die Szenerie dann deutlich und es beginnt praktisch eine ganz neue Art von Geschichte. Diese ist zwar für sich genommen auch nicht uninteressant, ignoriert aber weitestgehend die unterschwelligen Fragen, das moralische Dilemma, die offensichtliche Kritik und die politischen Dimensionen, die im ersten Teil so geschickt aufgebaut wurden. Plötzlich wird all das fast vollständig ausgeblendet und stattdessen "nur" ein spannendes Abenteuer erzählt; ganz so, als habe der Autor aus unerfindlichen Gründen plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen. Dieser komplette Bruch ist nicht nur sehr irritierend, er schadet auch dem Gesamteindruck deutlich. Denn so bleibt am Ende das unbefriedigende Gefühl, dass hier ein sorgfältig durchdachtes Szenario, das reichlich Diskussionsstoff geboten hätte, leichtfertig verschenkt wurde.

Ein Roman also, der viel Gutes zu bieten hat, aber letztlich trotzdem ein wenig enttäuscht. Wie gesagt: irgendwie merkwürdig.


John Lanchester

Die Mauer

Eine sf-Lit - Kurzkritik von 2020